22. Juli 2018, Sonntagmorgen
Der Beginn einer Zeitreise zurück in das Jahr 1944. Unsere erste Station ist ein großer Felsblock, der „Makri Lithari“ (langer Stein). Hier hielten sich die 32 deutschen Soldaten, unter ihnen mein Großvater, vor den Partisanen auf der Straße unterhalb des Steins versteckt. Es nützte ihnen nichts – eine weitere Einheit der ELAS kam den Berghang hinab, erschoss die Hälfte der Soldaten und nahm die verbliebenen 16 gefangen.
Giannis und ich stehen auf dem Felsen, sehen uns um. Ich frage mich, was die Deutschen hier gewollt haben könnten. Kein strategisch wichtiger Ort, keine kriegswichtigen Ressourcen, nur Felslandschaft, durchsetzt mit kargem Gras, ein paar Ziegen.
Wir sind auf dem Rückweg zur Straße, als die Besitzerin des Areals uns mit frischem Ziegenkäse und einer Flasche Grappa entgegenkommt. Giannis erklärt mir, dass es ein Brauch sei, die Fremden zu bewirten, wenn sie das eigene Grundstück überquerten. Nicht zum ersten Mal bin ich von der griechischen Gastfreundschaft beeindruckt.
Unsere nächste Station ist eine kleine Kapelle auf der gegenüberliegenden Flanke des Tals. Steinige Serpentinen lassen uns spüren, dass ein Fiat Punto kein Geländewagen ist. Ein besorgniserregender Geräuschpegel vom Unterboden des Fahrzeugs wird übertönt vom zu hochtourig gefahrenen Motor. An einigen Steigungen muss ich meine Familie bitten, den Wagen zu verlassen. Es beruhigt etwas, dass man bei diesem Tempo den Schildkröten auf der Straße besser ausweichen kann.
Wir erreichen die Kapelle ein paar Minuten nach unseren Begleitern. Von hier aus führt ein Pfad fußläufig zu einer großen Höhle im Fels, der „Spilia tou Godzi“ (Godzis Höhle).
Um sich vor nachrückenden deutschen Truppen zu verstecken, suchten die Partisanen der ELAS mit ihren 16 Gefangenen diese Höhle auf. Hier verbrachten sie die Nacht.
Der Ort konnte nicht besser gewählt sein. Aus dem Tal ist die Höhle nicht einsehbar, aus ihrem Inneren breitet sich vor dem Betrachter die weite Landschaft aus. Für mich an diesem Tag ein überwältigender Anblick, frage ich mich, was meinem Großvater damals am gleichen Ort durch den Kopf gegangen sein mag. Ob er vermutete, dass dieses Bild das letzte von Schönheit in seinem Leben war. Oder ob er angesichts dieses Panoramas doch noch Hoffnung verspürte.
Ich ertappe mich dabei, unauffällig nach Spuren zu suchen. Ohne Erfolg.
Als wir die Höhle verlassen, hält mich Giannis zurück. Wir sehen uns an, er drückt mir etwas in die Hand. Es ist ein breiter Nagel, von Rost überzogen. Ein Nagel, wie er zum Beschlagen von Soldatenstiefeln verwendet wurde.
Wir wandern zurück zur Kapelle. Ich fühle mich bedrückt, trauernd um den mir unbekannten Opa. Auch Giannis ist in diesem Moment sehr still. In seinem Gesicht meine ich etwas Ähnliches wie die Emotion ablesen zu können, die mich in diesem Moment umtreibt. Doch Ablehnung, Feindschaft oder gar Hass ist da nicht zu spüren, weder bei ihm noch bei mir.
Über nun wieder gut befahrbare Straßen erreichen wir schließlich die letzte Station unserer Zeitreise. Weit außerhalb von Psari lebt die Familie Gatsiopoulos, die als eine der wenigen den Käse und Joghurt aus eigener Herstellung noch selbst vertreibt.
Wir befinden uns auf einer überdachten Terrasse. An der Hauswand hängt eine rostige Munitionskette, das Kaliber der Patronen gleicht dem eines deutschen Maschinengewehrs.
Giannis stellt mich Herrn Gatsiopoulos, dem Sohn eines ELAS-Angehörigen, vor. Herr Gatsiopoulos reicht mir die Hand, sieht mir dabei nicht in die Augen, wendet den Blick nach unten. Was mir im ersten Moment wie ein Ausdruck von Abneigung erscheint, ist tatsächlich eine tiefe Scham. Giannis erklärt mir, dass die Bewohner Psaris und der umliegenden Gebiete nicht gewillt sind, die Deutschen für deren Abscheulichkeiten in den Kriegsjahren zu verurteilen. Vielmehr schämen sie sich des brutalen Umgangs der ELAS mit ihren deutschen Gefangenen.
Ich bin in diesem Moment fassungslos. Vorbereitet war ich zu Beginn der Reise auf ein Spektrum zwischen Ablehnung und Wohlwollen. Nun steht mir dieser Mann gegenüber, der sich vor einem Nachkommen der Invasoren schämt. Ich möchte ihn am liebsten umarmen, ihm damit deutlich machen, dass die Schuld auf Seiten meines Volkes liegt, bin mir aber nicht sicher, ob diese Geste angebracht wäre. Vorsichtig berühre ich ihn an der Schulter, senke ebenfalls den Blick, und hoffe, dass er dies als ein Zeichen der Versöhnung deutet.
Inmitten der umliegenden Felder befindet sich eine Doline, ein natürliches Wasserloch (griech. Katavothra), das senkrecht in einen unterirdischen Flusslauf hinabführt. Die Ränder wurden in den 70er Jahren betoniert, direkt benachbart liegt ein von Bäumen und prallem Gras umringter kleiner See. Ein Idyll.
Am 3. Juli 1944 endete an diesem Ort das Leben von Paul Gerhard Wierschke. Die Männer der ELAS stießen die 16 Soldaten der Wehrmacht in das Wasserloch hinab. Eine Überlebenschance bestand angesichts der Tiefe nicht.
Wir stehen am Rand des Katavothras. Herr Gatsiopoulos sagt leise etwas. Giannis übersetzt es für mich ins Englische: „Dein Großvater sieht jetzt aus dem Himmel auf dich hinab und freut sich, dass er nicht vergessen ist“.
Giannis und ich stehen noch eine lange Zeit dort. Arm in Arm. Blicken hinab. Wir haben beide Tränen in den Augen. Es ist einer der bewegendsten Momente in meinem Leben.