Die Vorgeschichte

Paul Gerhard Wierschke | Unteroffizier der WehrmachtDies ist mein Großvater Paul Gerhard Wierschke, geboren  am 21.5.1919 in Schönwitz / Kreis Falkenberg / Oberschlesien, heutiges Karców (Polen).
Er arbeitete als Gärtner bei der Rosenzucht Teschendorff in Cossebaude bei Dresden, als die Deutschen den Krieg entfachten. Wie die meisten jungen Männer seiner Generation musste er seinen Dienst in der Wehrmacht ableisten, um „dem Führer den Sieg zu bringen“.
Gerhard wurde 25 Jahre alt.

Vor einigen Jahren erstellte ich einen Familienstammbaum. Nach und nach füllte sich dieser Stammbaum mit Leben – Geschichten, Anekdoten, Erlebnisse, kleinere und größere Abenteuer.
Eine Seite blieb leer. In dem Feld, dass der Beschreibung meines Großvaters mütterlicherseits zugedacht war, prangte lediglich ein großes Fragezeichen.

Niemand aus meiner Familie konnte Näheres sagen, und meine Großmutter, Gerhards Frau, war bereits vor einigen Jahren verstorben.
Die einzige, vage Information war, dass er mit seiner Einheit nach Griechenland verlegt wurde und seit dem Truppentransport angeblich als vermisst galt.

Durch die Wirren der Nachkriegszeit, Übersiedlung, und nicht zuletzt durch die Herausforderung, sich in neuer Heimat allein mit zwei kleinen Töchtern eine Existenz aufbauen zu müssen, stellte meine Großmutter erst im Jahr 1965 einen Suchantrag beim Roten Kreuz.

Ich weiß heute nicht mehr, was mich bewog, dem Schicksal meines Großvaters so intensiv und verbissen nachzugehen. Vielleicht ist es der Umstand, dass sein Leben nach nur 25 Jahren ein so trauriges Ende fand.
Oder die damit verbundene Tatsache, dass er in keiner unserer Familiengeschichten jemals Einzug hielt.

Letztendlich machte ich mich auf die Suche nach ihm, und allein das zählt heute.

Die Nachforschung

Ich schrieb vier Institutionen mit der Bitte um Auskunft an:

  • die Deutsche Dienststelle (WASt) für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht, Berlin
  • den DRK-Suchdienst, München
  • den Kirchlichen Suchdienst, Passau
  • den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V., Kassel

Zusätzlich bat ich im „Forum der Wehrmacht“ um Informationen zu Routen und Truppenbewegungen der Wehrmacht in / nach Griechenland, denn bislang ging ich davon aus, dass mein Großvater an seinem Bestimmungsort niemals angekommen war.

Es folgte eine lange, sehr lange Zeit des Wartens. Nach einigen Wochen trudelten jeweils Eingangsbestätigungen ein – durchweg mit dem Hinweis, dass die Nachforschungen „einen längeren Zeitraum in Anspruch nähmen“.

Im Laufe der nächsten zwei Jahre erhielt ich nach und nach die Antwortschreiben der vier Institutionen mit mehr oder minder brauchbaren Informationen:



Kirchlicher Suchdienst | Wehrmacht Vermisst Griechenland
wie von Ihnen gewünscht, haben wir unsere Unterlagen entsprechend Ihren Angaben geprüft. Ihr Großvater wird hier wie folgt geführt:

Gerhard Wierschke, geb. 21.05.1919 und auch als Paul Gerhard, geb. 21.05.1921, vermisst seit 01.07.1944

Zum Verbleib liegen uns keine Aufzeichnungen vor, was uns für Sie sehr leid tut.


Volksbund | Wehrmacht Vermisst Griechenland
Gerhard Wierschke, * 21.05.1919 Alt-Driebitz       Vorgangs-Nr. 933882

Unter der o.g. Vorgangsnummer haben wir Sie als Angehörige (n) bzw. Interessenten registriert. Somit können wir Sie zukünftig über die umfangreiche Arbeit des Volksbundes informieren.


DRK Suchdienst | Wehrmacht Vermisst Griechenland
Wierschke, Gerhard, geb. 21.05.1919

wir bedanken uns für Ihre Anfrage. Unsere Ermittlungen haben Folgendes ergeben:
Gerhard Wierschke, *21.05.1919 in Hammer, Bezirk Glogau/Schlesien;
Oberjäger (Unteroffizier) im II. Bataillon Luftwaffenjägerregiment 22, 7. Kompanie; auch 5./Jägerregiment 22 (L)
Feldpostnummer: 44173 und 50118;
Vermisstenbildliste DRK-Suchdienst München Band LM 2. Nachtrag Seite 337, 2-1;
letzte eigene Nachricht: Mai 1944, Griechenland;
lt. Meldung der Einheit Feldpostnummer 44173 (liegt beim DRK-Suchdienst München nicht vor) vermisst Feldwebel Schröder mit 28 Mann kam nicht vom Einsatz zurück.
Vermisst seit 02.07. 1944 Psari, Peloponnes (Auskunft Deutsche Dienststelle Berlin).

Der Suchauftrag besteht beim DRK-Suchdienst seit 1965. Die erste Anfrage stellte die Ehefrau des Vermissten Sophie Wierschke, geb. Wanzek., *01.05.1921. Die o.a. kursiv gesetzten Angaben stammen aus dem Suchantrag der Ehefrau vom 08.02.1965

Alle bisherigen Bemühungen des DRK-Suchdienstes München, das Schicksal von Gerhard Wierschke zu klären, blieben erfolglos. … . Gerhard Wierschke gehört nach wie vor zu den Menschen, die verschollen sind, deren Schicksal ungeklärt ist. Der Suchfall bleibt bis zu einer möglichen Klärung weiterhin offen.


Deutsche Dienststelle WAST | Wehrmacht Vermisst Griechenland
auf Ihre Anfrage vom 08.03.2010 nach dem militärischen Werdegang Ihres Großvaters und vom 25.10.2010 nach seinem Verbleib teile ich Ihnen mit, dass die Personalpapiere (Wehrpass, Wehrstammbuch, Stammrolle, etc.) hier nicht vorliegen; sie sind vermutlich durch Kriegseinwirkung verloren gegangen.

Aus sonstigem Schriftgut der ehemaligen Wehrmacht wird Folgendes bestätigt:

– Wierschke, Gerhard, geboren am 21.05.1919 in Alt-Driebitz

Erkennungsmarke – 290 – Lw.Bau.Kp. 6

Dienstgrad:                  Oberjäger (Unteroffizier)

Truppenteile:
lt. Meldung vom 08.12.1939 Luftwaffen-Bau-Kompanie 6/ IV (motorisiert)
Einsatzraum: Sorau, später Liegnitz
– bis Februar 1944 liegen keine Meldungen vor –
lt. Meldung vom 10.02.1944  5. Kompanie Jäger-Regiment 22 (Luftwaffe)
(= Feldpost-Nr. 44 173 B)
Unterstellung: 11.Feld-Division (Luftwaffe)
Einsatzraum: Feb. 1944 – Juli 1944 = Griechenland

Vermisst:        02.07.1944 bei Psari / Peloponnes
Die Vermisst-Meldung enthält den Vermerk:

„Von Banden verschleppt, vermutlich ermordet“

Über den Verbleib Ihres Großvaters ist uns nichts bekannt geworden.



Gegen die Web-Community „Forum der Wehrmacht“ hegte ich aufgrund der etwas martialischen Aufmachung anfangs einige Ressentiments. Völlig unbegründet, wie sich schnell herausstellen sollte. Die Teilnehmer/-innen glänzen durch fundiertes Wissen, beeindruckende private Archive, und nicht zuletzt eine ausgeprägte Hilfsbereitschaft.
Der Umgangston ist freundlich und sachlich.

Hier erhielt ich wertvolle Informationen, wie diese beiden Threadbeiträge eindrucksvoll zeigen.

Von Roland:

…25.06.1944
Beginn des Bandenunternehmen “Adler“, als größtes Unternehmen, welches je auf dem Peloponnes durchgeführt wurde, mit etwa 4 000 Soldaten, geplant für einen Zeitraum von 6 – 8 Wochen, zur Säuberung des Parnon-Gebirges und im allgemeinen Raum Sparta – Leonidion – Astros – Tripolis. Das Unternehmen musste auf Grund der Gesamtkriegslage Anfang Juli 1944 bereits abgebrochen werden
(Hermann F.Meyer, Von Wien nach Kalavryta – Die blutige Spur der 117.Jg.Div durch Serbien und Griechenland, Bibliopolis, Möhnesee-Wameln, 2001, S. 402, 407)

03.07.1944
Kurz vor Beendigung des Unternehmens “Adler“ wurden am 3.7.44 Teile des II. Bataillons, Lw.JgRgt 22 am Stymfalia-See, unweit von Nemea, von starken Bandenkräften, dem 6.ELAS-Regiment, eingeschlossen und hatte dabei empfindliche Verluste von 18 Toten, 29 Verwundeten und 23 Vermissten.
In der griechischen Nachkriegsliteratur vervielfältigte sich jedoch die Anzahl der deutschen Toten erheblich! (HF. Meyer, 117.Jg, S. 407) …

Von Byron:

Hallo Tom,
01-03 Juli 1944: Roland hat das Geschehen richtig beschrieben.
Bei der Durchführung des Unternehmens „Adler“ haben die Deutschen im Sommer 1944 versucht die Partisanen auf dem Peloponnes zu vernichten. Psari (bedeutet Fisch), ist ein Bergdorf auf einer Höhe von etwa 750 m liegend in der Nähe der Stymfalia-See in Arkadien, dort wo Herkules die stymphalischen Vögel tötete. Dort hat das Btl.II des 22. Lw.Feldregiments einen Zug der 5. Kp. von 32 Mann gelassen. Diese behandelten die Dorfeinwohner sehr grob und lagerten an der Strasse nach Siouri auf dem Berg Brekos. Der Rest des Bataillons marschierte weiter zu anderen Dörfern des Stymphalia. Der Notar des Dorfes Giorgos Ikonomopoulos (ein Soldat hatte seine Frau vergewaltigt) schickte eine Nachricht zu den Partisanen der Umgebung die am Abend den Zug angriffen. 16 Soldaten fielen, die restlichen 16 wurden gefangen und am nächsten Tag im Nachbarort Skotini exekutiert.Das Bataillon kehrte zurück und fand im Dorf nur 5 Greise, die Bevölkerung war in die Berge geflohen. Psari wurde verbrant, die Greise erschossen.Der deutsche Schriftsteller und mein unvergesslicher Freund Hermann-Frank Mayer hatte im Jahre 1975 als junger Bursche das Dorf Psari besucht und versuchte von einem Bewohner zu erfahren wie die 16 gefangene Soldaten umgebracht wurden. Er erhielt die Antwort: „Warum willst Du die unangenehme Vergangenheit erwecken. Das waren alles böse Sachen. Setz Dich, trink ein Glas Wein mit mir und gehe Deinen guten Weg“.
Besuche Arkadien, ist eine wunderschöne Gegend, da wo der Gott Pan und Nymphen hausten.

Schnell und unkompliziert bekam ich außerdem vom Bundesarchiv/Militärarchiv per e-Mail eine Kopie der relevanten Seite aus dem Kriegstagebuch:

KTB Kriegstagebuch Nemea | Jaegerregiment 22 | Griechenland„Bei Aufklärungsunternehmen im Raum W Nemea ( 20 NNW Argos ) Kampfgruppe II./Jg.Rgt. 22 ( L ) von starken Bandenkräften eingeschlossen, konnte sich nach O durchschlagen. Empfindliche eigene Verluste ( 18 Tote, 29 Verwundete, 23 Vermißte ).“

Psari

Nun hatte ich zumindest einen Ort: Psari / Peloponnes.

Die Recherche nach Psari im Netz gestaltete sich schwierig. „Psari“ bedeutet auf Griechisch „Fisch“, und so bekam ich neben allerhand leckeren maritimen Kochrezepten und jeder Menge Reisetipps an Griechenlands schöne Küsten nur wenige Ergebnisse, die auf Orte dieses Namens hindeuteten. Da es auf dem Peloponnes mehrere Dörfer namens Psari gibt, galt es zudem gesichert herauszufinden, um welchen es sich in der Vermisstmeldung handelte.

Nach einigen Versuchen mit unterschiedlichen Kombinationen von Suchbegriffen stand fest, dass es nur Psari bei Stymfalia sein konnte, knapp 30 Kilometer südlich von Korinth. Und tatsächlich existierte über dieses Psari eine umfangreiche Website: psarikorinthias.gr.

Psari Korinth Peloponnes Griechenland

Mein Herz schlug schneller, als ich im Archiv der Seite einen ausführlichen Bericht über Kämpfe der griechischen Partisanenarmee ELAS gegen Soldaten der Wehrmacht entdeckte. Sämtliche dort angegebenen Daten spiegelten exakt das Ergebnis meiner bisherigen Recherchen wider.

Als für die Website Verantwortlicher war ein Giannis Skourtis genannt.

Erster Kontakt

Was schreibt man als Deutscher einem Griechen, dessen Vorfahren und Heimatdorf von der Wehrmacht und namentlich vom eigenen Großvater, auf brutalste Weise malträtiert worden waren? Wie wohlgesonnen kann dieser Grieche dem Deutschen sein, zumal sich die aktuelle deutsche Regierung in der Griechenland-Krise als überheblich und oberlehrerhaft aufspielt?

Lange Zeit unternahm ich nichts, um einen Kontakt herzustellen. Zu geringe Aussichten, zu pikant, falscher Zeitpunkt – Ausflüchte gab es stets. Anfang März 2017 fasste ich mir ein Herz und schrieb Giannis Skourtis auf Englisch an. Ihm versichernd, dass mir die Untaten der Deutschen in damaliger Zeit überaus leid täten, teilte ich ihm mit, ich sei der Enkel eines daran beteiligten Wehrmachtssoldaten. Vorsichtig fragte ich, ob er eventuell über weitere Informationen zu dessen Schicksal verfügte oder mir jemanden als Ansprechpartner nennen könne.
Eine Reaktion erwartete ich nicht.

Zwei Tage später wurde ich eines Besseren belehrt. Die Antwort auf meine eMail war voller Verständnis, Freundlichkeit und Herzenswärme. Giannis schrieb, dass „er wünsche, die Zeit zurückdrehen zu können, um diese schrecklichen Ereignisse ungeschehen zu machen“. Das Schicksal meines Großvaters und der anderen Soldaten bedauere er sehr. Dann, wie eine Vorankündigung und gleichsam ein Versprechen an zukünftige Begegnungen:

„I hope that through our communication we will have the chance to know each other better and one day that you will have the chance to come to Greece and visit Psari.“

Von diesem Tag an wurde unser Kontakt intensiver. Giannis ließ nichts unversucht, Details über die damaligen Ereignisse in Psari ans Tageslicht zu fördern. Er sprach mit Zeitzeugen (!), recherchierte in der griechischen Literatur, schickte Fotos und Berichte. Dank ihm enstand ein nahezu lückenloses Journal der ersten Tage im Juli 1944. Es war ein mehr als glücklicher Zufall, dass ich mit Giannis ausgerechnet den leidenschaftlichen Historiker des Ortes kontaktiert hatte.

Nur zu gern hätte ich mich erkenntlich gezeigt. Eine Quelle von Giannis‘ Verständnis mir gegenüber mag die Tatsache sein, dass auch sein Onkel ein Vermisster des Zweiten Weltkriegs ist. Seine sterblichen Überreste werden in den Bergen Albaniens vermutet. Ich versuchte im Gegenzug, Giannis bei seiner Suche zu helfen, konnte aber leider nicht viel ausrichten.

Während unserer Korrespondenz begannen wir beiläufig, uns über Privates auszutauschen. Familienfotos wechselten von der Nordsee an die Ägäis und zurück, wir tauschten Lebensziele und Träume unserer Kinder aus. So entstand mit der Zeit eine Freundschaft, deren Basis mehr beinhaltete als das gemeinsame Interesse an der Vergangenheit.

Als meine Frau Birthe und ich Ende 2017 den Sommerurlaub mit meiner Schwiegermutter Dagmar Neetzel (Elsfleth) und unseren Kindern Paul und Jette (14 und 15 Jahre alt) planten, waren wir uns mit dem Ziel schnell einig: Griechenland. Als Kompromiss an die Bedürfnisse aller wurde ein Hotel nahe der Küstenstadt Ermioni gewählt. Von dort aus sollte es für ein Wochenende nach Psari gehen, wo wir uns mit unseren griechischen Freunden verabredet hatten.

Die Reise beginnt

Anflug Athen | Aegaeis16. Juli 2018
Nach drei Stunden Flug ab Bremen landen wir am späten Vormittag in Athen. Am Flughafen werden wir freudestrahlend von der kompletten Familie Skourtis begrüßt, die uns anschließend mit zwei Autos zur Fähre nach Piräus bringt. Das Eis ist schnell gebrochen, wir reden über Politik, Triviales, und das bevorstehende gemeinsame Wochenende.

Ein vorläufiger Abschied mit vielen Umarmungen, dann geht es mit der Fähre nach Ermioni und von dort aus mit dem Taxi zum Hotel. Wir staunen, wie der Taxifahrer es schafft, fünf Personen inklusive Gepäck in einem Mercedes unterzubringen. „No problem, no problem“, wird uns mehrfach souverän versichert. Was man mit einem guten Bindfaden so alles am Auto befestigen kann …

Nächster Halt: Psari

21. Juli 2018, Samstagmorgen
135 Kilometer Fahrstrecke in nordwestliche Richtung liegen vor uns, als wir unser Feriendomizil in Thermisia verlassen. Nach der engen Umarmung des Urlaubsresorts erscheint die schroffe Wildheit der Berglandschaft wie eine andere Welt. Die Reise führt uns durch pittoreske, in der wabernden Hitze dösende Dörfer. Gut ausgebaute Straßen verjüngen sich hinter der nächsten Biegung zu abenteuerlich kurvigen Schotterstrecken, welche uns mahnen, die Reisetabletten beim nächsten Mal nicht zu vergessen. Beidseitig flankierend immer wieder hohe Berge, in der Ferne gleißender Marmor-Tagebau.

Fahrt Griechenland Ermioni Psari 1   Fahrt Griechenland Ermioni Psari 2

Eine kurze Pause an einem der zahlreichen kleinen Obst- und Gemüsestände, wo wir mit Händen und Füßen versuchen, von der Verkäuferin den Preis für ein halbes Kilo frische Feigen zu erfahren. Bis sie es nachsichtig aufgibt, uns zu unterrichten, das dargebotene Geld nimmt und uns noch zwei große Tomaten schenkt.

Griechenland Peloponnes Psari    Griechenland Psari Nemea Zeustempel

Nach zwei Stunden eine größere Stadt. Nemea, wo uns die Säulen des antiken Zeus-Tempels eindrucksvoll begrüßen.

Ein kurzer Anruf bei unseren Freunden – wir sind in einer halben Stunde da.

Man will uns am Ortseingang von Psari treffen, zum Haus von Giannis‘ Mutter geleiten und dort ausführlich in Empfang nehmen.

Griechenland Psari Peloponnes Wehrmacht 1

Nun ist es also soweit. Ich stehe auf einem Berg südlich von Psari und mir wird schlagartig bewusst, dass dies die Gegend ist, durch die 74 Jahre zuvor, ebenfalls im Juli, mein Großvater mit Waffe und Rucksack marschiert ist. Immer wieder war ich in den letzten Monaten seinem Weg gedanklich auf der Karte gefolgt. Immer wieder hatte ich mir ausgemalt, wie die persönliche Begegnung mit der Familie Skourtis ablaufen könnte. Ich habe so etwas wie Angst.

The Germans are back

Psari Korinth Peloponnes EmpfangAm Ortseingang von Psari begrüßt uns Giorgio, Giannis‘ ältester Sohn. Giorgio, Student an der Universität Piräus, hatte für seinen Vater die Übersetzungsarbeit bei unserer Korrespondenz geleistet. Er führt uns zum Haus seiner Großmutter, wo die anderen im schattigen Innenhof auf uns warten. Es ist eine illustre Gesellschaft:
Giannis mit Familie, sowie aus New York angereist seine Jugendfreundin Elsa mit ihrem Mann Bruce und Tochter Sophia.

Deutsch griechische Versöhnung 1   Deutsch griechische Versöhnung 2

Die Atmosphäre ist entspannt und freundlich. Wir reden über Reisen, Politisches, Psari, und die Planung für den nächsten Tag. Anschließend eine erste gemeinsame Mahlzeit außerhalb, gefolgt von einem ausgedehnten Kaffeetrinken.

Deutsch griechische Versöhnung 3   Psari Korinth Peloponnes Umgebung

Den Rest des Nachmittags sind wir in der näheren Umgebung unterwegs, während wir den mal rauen, mal liebreizenden Charme der argolischen Landschaft in uns aufnehmen. Es dämmert bereits, als wir zurück in Psari sind. In phantastischer Stimmung lassen wir den Abend gemächlich in der Taverne ausklingen.

Psari Peloponnes Panorama   Deutsch griechische Freundschaft 1

κάθαρσις – Ein Tag der Erkenntnis

22. Juli 2018, Sonntagmorgen
Der Beginn einer Zeitreise zurück in das Jahr 1944. Unsere erste Station ist ein großer Felsblock, der „Makri Lithari“ (langer Stein). Hier hielten sich die 32 deutschen Soldaten, unter ihnen mein Großvater, vor den Partisanen auf der Straße unterhalb des Steins versteckt. Es nützte ihnen nichts – eine weitere Einheit der ELAS kam den Berghang hinab, erschoss die Hälfte der Soldaten und nahm die verbliebenen 16 gefangen.

Versteck Soldaten Wehrmacht Psari   griechische gastfreundschaft 1

Giannis und ich stehen auf dem Felsen, sehen uns um. Ich frage mich, was die Deutschen hier gewollt haben könnten. Kein strategisch wichtiger Ort, keine kriegswichtigen Ressourcen, nur Felslandschaft, durchsetzt mit kargem Gras, ein paar Ziegen.

Wir sind auf dem Rückweg zur Straße, als die Besitzerin des Areals uns mit frischem Ziegenkäse und einer Flasche Grappa entgegenkommt. Giannis erklärt mir, dass es ein Brauch sei, die Fremden zu bewirten, wenn sie das eigene Grundstück überquerten. Nicht zum ersten Mal bin ich von der griechischen Gastfreundschaft beeindruckt.

Unsere nächste Station ist eine kleine Kapelle auf der gegenüberliegenden Flanke des Tals. Steinige Serpentinen lassen uns spüren, dass ein Fiat Punto kein Geländewagen ist. Ein besorgniserregender Geräuschpegel vom Unterboden des Fahrzeugs wird übertönt vom zu hochtourig gefahrenen Motor. An einigen Steigungen muss ich meine Familie bitten, den Wagen zu verlassen. Es beruhigt etwas, dass man bei diesem Tempo den Schildkröten auf der Straße besser ausweichen kann.

Psari Korinth Gotzis Cave   Psari Korinth St. Theodor Kapelle

Wir erreichen die Kapelle ein paar Minuten nach unseren Begleitern. Von hier aus führt ein Pfad fußläufig zu einer großen Höhle im Fels, der „Spilia tou Godzi“ (Godzis Höhle).

Um sich vor nachrückenden deutschen Truppen zu verstecken, suchten die Partisanen der ELAS mit ihren 16 Gefangenen diese Höhle auf. Hier verbrachten sie die Nacht.

Der Ort konnte nicht besser gewählt sein. Aus dem Tal ist die Höhle nicht einsehbar, aus ihrem Inneren breitet sich vor dem Betrachter die weite Landschaft aus. Für mich an diesem Tag ein überwältigender Anblick, frage ich mich, was meinem Großvater damals am gleichen Ort durch den Kopf gegangen sein mag. Ob er vermutete, dass dieses Bild das letzte von Schönheit in seinem Leben war. Oder ob er angesichts dieses Panoramas doch noch Hoffnung verspürte.

Psari Versteck ELAS Gefangene Soldaten Wehrmacht 1   Psari Versteck ELAS Gefangene Soldaten Wehrmacht 2

Ich ertappe mich dabei, unauffällig nach Spuren zu suchen. Ohne Erfolg.

Als wir die Höhle verlassen, hält mich Giannis zurück. Wir sehen uns an, er drückt mir etwas in die Hand. Es ist ein breiter Nagel, von Rost überzogen. Ein Nagel, wie er zum Beschlagen von Soldatenstiefeln verwendet wurde.

Wir wandern zurück zur Kapelle. Ich fühle mich bedrückt, trauernd um den mir unbekannten Opa. Auch Giannis ist in diesem Moment sehr still. In seinem Gesicht meine ich etwas Ähnliches wie die Emotion ablesen zu können, die mich in diesem Moment umtreibt. Doch Ablehnung, Feindschaft oder gar Hass ist da nicht zu spüren, weder bei ihm noch bei mir.

Über nun wieder gut befahrbare Straßen erreichen wir schließlich die letzte Station unserer Zeitreise. Weit außerhalb von Psari lebt die Familie Gatsiopoulos, die als eine der wenigen den Käse und Joghurt aus eigener Herstellung noch selbst vertreibt.

Patronengurt Wehrmacht GriechenlandWir befinden uns auf einer überdachten Terrasse. An der Hauswand hängt eine rostige Munitionskette, das Kaliber der Patronen gleicht dem eines deutschen Maschinengewehrs.

Giannis stellt mich Herrn Gatsiopoulos, dem Sohn eines ELAS-Angehörigen, vor. Herr Gatsiopoulos reicht mir die Hand, sieht mir dabei nicht in die Augen, wendet den Blick nach unten. Was mir im ersten Moment wie ein Ausdruck von Abneigung erscheint, ist tatsächlich eine tiefe Scham. Giannis erklärt mir, dass die Bewohner Psaris und der umliegenden Gebiete nicht gewillt sind, die Deutschen für deren Abscheulichkeiten in den Kriegsjahren zu verurteilen. Vielmehr schämen sie sich des brutalen Umgangs der ELAS mit ihren deutschen Gefangenen.

Ich bin in diesem Moment fassungslos. Vorbereitet war ich zu Beginn der Reise auf ein Spektrum zwischen Ablehnung und Wohlwollen. Nun steht mir dieser Mann gegenüber, der sich vor einem Nachkommen der Invasoren schämt. Ich möchte ihn am liebsten umarmen, ihm damit deutlich machen, dass die Schuld auf Seiten meines Volkes liegt, bin mir aber nicht sicher, ob diese Geste angebracht wäre. Vorsichtig berühre ich ihn an der Schulter, senke ebenfalls den Blick, und hoffe, dass er dies als ein Zeichen der Versöhnung deutet.

Inmitten der umliegenden Felder befindet sich eine Doline, ein natürliches Wasserloch (griech. Katavothra), das senkrecht in einen unterirdischen Flusslauf hinabführt. Die Ränder wurden in den 70er Jahren betoniert, direkt benachbart liegt ein von Bäumen und prallem Gras umringter kleiner See. Ein Idyll.

Doline Katavothra 1   Doline Katavothra 2

Am 3. Juli 1944 endete an diesem Ort das Leben von Paul Gerhard Wierschke. Die Männer der ELAS stießen die 16 Soldaten der Wehrmacht in das Wasserloch hinab. Eine Überlebenschance bestand angesichts der Tiefe nicht.

Wir stehen am Rand des Katavothras. Herr Gatsiopoulos sagt leise etwas. Giannis übersetzt es für mich ins Englische: „Dein Großvater sieht jetzt aus dem Himmel auf dich hinab und freut sich, dass er nicht vergessen ist“.

Doline Katavothra 3    Doline Katavothra 4

Giannis und ich stehen noch eine lange Zeit dort. Arm in Arm. Blicken hinab. Wir haben beide Tränen in den Augen. Es ist einer der bewegendsten Momente in meinem Leben.

Epilog

Wir verließen Psari am Nachmittag. Nicht, ohne uns während eines letzten gemeinsamen Essens mehrfach bei unseren Gastgebern zu bedanken. Sämtliche Rechnungen der vorherigen Mahlzeiten hatten die griechischen Freunde beglichen – jeglicher Widerspruch war zwecklos. Diesmal kamen wir ihnen zuvor und bezahlten heimlich noch während des Desserts. Als Giannis es gegen Ende der Runde gewahr wurde, schmunzelte er und meinte: „This is the Greek way“.

Selten sind mir so freundliche, hilfsbereite und gastfreundliche Menschen begegnet wie unsere neuen griechischen Freunde. Ihr Verhalten uns gegenüber machte eine Reise, angetreten vor einem sehr ernsten Hintergrund und durchzogen von einer moralischen Last auf beiden Seiten, zu einem unvergesslichen Erlebnis. Unsere Freundschaft wurde durch diese beiden Tage gefestigt, und eigentlich ist es unnötig zu erwähnen, dass wir sobald wie möglich wieder nach Psari zurückkehren werden. Oder die Griechen zur Abwechslung uns überfallen.

Als Reiseziel für einen längeren Aufenthalt oder einen Abstecher möchte ich Psari uneingeschränkt empfehlen. Die „Paths Of Culture – Psari“, eine überwältigende Landschaft, zuvorkommende Menschen, historische Stätten seien nur beispielhaft genannt.

Giannis Skourtis PsariErwähnen möchte ich auch die unermüdliche Arbeit, die Giannis Skourtis für seinen Heimatort leistet. Sei es die Pflege seiner hervorragenden Website psarikorinthias.gr, die Neuerrichtung einer wunderschönen Kapelle, die Tätigkeit als Chronist, oder die Förderung des Tourismus vor Ort. Hier könnte noch vieles mehr aufgezählt werden, was er in Eigenregie oder in Zusammenarbeit mit Elsa Stamatopoulou auf die Beine stellt.

Bedanken möchte ich mich neben der Familie Skourtis bei  Elsa und Sophia Stamatopoulou sowie Bruce Robbins für seine geistreiche und kluge Begleitung, hilfreiches Übersetzen und nicht zuletzt für seinen unnachahmlichen Humor.

Der Name des Blogs geht auf Elsa zurück. Als mir auf die Frage nach meinen Emotionen zu unserer Begegnung eine Äußerung schwerfiel, brachte sie als sehr treffende Beschreibung den Begriff der Katharsis („Reinigung“) ins Spiel. Nach der Definition der antiken griechischen Tragödie steht die seelische Reinigung am Ende des Erlebens von Schrecken und Trauer.